„Diabetes 2017“ heißt eine Bestandsaufnahme der
Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche
Diabetes-Hilfe. Die frühe Nutzenbewertung á la AMNOG kommt dort nicht
gut weg. Beide Organisationen befürchten, dass Deutschland sich vom
medizinischen Fortschritt abkoppelt. Dabei sind die Krankheitszahlen
alarmierend.
Es klingt wie die Kritik eines Pharma-Managers: „Auf der Ebene der
Strategie der Medikamentenentwicklung ist es wenig lukrativ, für
chronische Krankheiten Medikamente für Deutschland zu entwickeln, in
denen viele Therapien generisch sind.“ Aber dies ist kein Zitat aus
einem Positionspapier eines Unternehmens, sondern findet sich in der
Bestandsaufnahme einer der angesehensten
medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften des Landes. In
ihrer Bestandsaufnahme sprechen DDG und diabetesDE von einer
drohenden „Innovationsbremse“ und sehen dringenden Handlungsbedarf,
um den AMNOG-Prozess zu verbessern.
Als Fundamentalkritik wollen die Autoren das aber nicht verstanden
wissen. Die frühe Nutzenbewertung sei in Anbetracht begrenzter
Ressourcen notwendig „und die Einführung des AMNOG sicher ein
wichtiger und prinzipiell richtiger Schritt“ gewesen. Aber die Kritik
am Verfahren ist nicht mehr zu überhören. Auch die
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften (AWMF) hatte bereits 2015 „deutlichen
Verbesserungsbedarf“ angemahnt.
AMNOG-Bewertung: IQWiG und G-BA sind sich nicht einig
Seit Einführung des AMNOG wurden mehr als 20
Nutzenbewertungsverfahren mit Diabetes-Medikamenten durchgeführt. Die
Ergebnisse sind eher bescheiden: Trotz neuer Wirkstoffklassen hat es
nur ein Präparat in einer bestimmten Patientengruppe zu einem
„beträchtlichen Zusatznutzen“ gebracht. Und das auch erst nach einem
Verfahren, das mehr an einen Hürdenlauf erinnert. Das Institut für
Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hatte für
den SGLT-2-Inhibitor Empagliflozin zunächst „aufgrund seiner selbst
auferlegten und wenig flexiblen Methodik“ (DDG) keinen Zusatznutzen
gesehen, war dafür scharf kritisiert und schlussendlich vom
Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als final entscheidendes Gremium
in die Schranken verwiesen worden. Eine Studie, die den Wert des
Wirkstoffes bei kardiovaskulär vorbelasteten Patienten belegt, war
vom IQWiG nicht berücksichtigt worden, obwohl es der European Society
of Cardiology (ESC) eine Erwähnung in ihren Leitlinien wert war.
Hier klaffen gleich zwei Lücken: Fachgesellschaften und
AMNOG-Organe kommen zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Aber
auch die Organe untereinander – also IQWiG und G-BA – haben öfter mal
unterschiedliche Vorstellungen davon, was einen Zusatznutzen ausmacht
und wie man ihn misst.
Generell sieht die DDG die medizinischen Fachgesellschaften und
ihre Expertise nicht ausreichend eingebunden. Das ist z.B. bei der
Festlegung einer „Zweckmäßigen Vergleichstherapie“ (ZVT) der Fall,
gegen die ein neues Medikament im AMNOG-Verfahren antreten soll. Im
Extremfall führe das zum Auflegen von klinischen Studien, die wenig
wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn versprächen. Die DDG fragt sich,
„ob es ethisch gerechtfertigt ist, Studienarme zu wählen, die als ZVT
ältere, wenig sichere und mit mehr unerwünschten Wirkungen behaftete
Substanzen“ einsetzen. Kommt es dann zur Preisverhandlung, soll ein
neues Medikament auch preislich gegen die ZVT antreten – und die
liegen etwa bei dem jahrzehntealten Metformin im Cent-Bereich. Sechs
Diabetes-Präparate (Stand: Okt. 2016) sind nicht mehr in Deutschland
erhältlich, weil man sich nach Abschluss des Verfahrens nicht auf
einen Preis hat einigen können. Das sind „düstere Perspektiven“ für
die Forschung, die klinische Expertise und den Wissenschaftsstandort
Deutschland, heißt es bei der Fachgesellschaft.
Ein Reizwort heißt „Surrogat-Parameter“. Sie werden in der
medizinischen Forschung häufig als Ersatz für patientenrelevante
Endpunkte verwendet, meist um Aussagen zum (Zusatz-)Nutzen früher und
einfacher zu erhalten – etwa, wenn sich aus Blutzuckerwerten
kardiovaskuläre Ereignisse in der Zukunft herleiten lassen. Oder aus
einer HPV-Infektion das Auftreten von Gebärmutterhalskrebs.
Surrogat-Parameter sind beim IQWiG ein ungeliebtes Kind. Sie
stehen für „Unsicherheit“, denn sie haben natürlich nicht die gleiche
Aussagekraft wie ein klinischer Endpunkt. Aber was wäre die
Alternative? Studien, die 10, 20 oder 30 Jahre laufen? Dann hätte
man zwar sichere Ergebnisse – in der Theorie. In der Praxis hätte man
in solchen Indikationen aber kaum noch neue Medikamente. Und ein
Geschäftsmodell ist es auch nicht. Denn wer soll für Studien
bezahlen, die über Jahrzehnte laufen? Und welcher Patient möchte an
so langen Studien teilnehmen? Erst lange nach Ablauf des
Patentschutzes stünden Endpunkte zur Verfügung. Für die DDG steht
fest, dass gerade bei Diabetes klinisch belegte relevante
Surrogat-Parameter Endpunkte sind, die berücksichtigt werden müssen.
Im Grunde stehen sich im AMNOG-Verfahren zwei Positionen
gegenüber: IQWiG und Co. sind offenbar der Meinung, dass die
Diabetes-Patienten in Deutschland gut versorgt sind – entsprechend
fällt ihre Beurteilung neuer Wirkstoffe aus. Bei der DDG klingt das
so: Die Einschränkung des Medikamenten-Portfolios mache es schwer,
eine individuelle, auf den Patienten abgestimmte Therapie umzusetzen:
„Die Therapiefreiheit wird beeinträchtigt“.
Jedes Jahr kommt ein „Mannheim“ dazu
Was ohnehin schon viel Geld kostet, könnte dann für das
Gemeinwesen noch teurer werden. Die DDG spricht von mehr als sechs
Millionen Diabetikern. Weil Patienten aber oft erst spät
diagnostiziert werden – die meisten erkranken an Typ-2-Diabetes –
gehen die Experten von einer Dunkelziffer von bis zu zwei Millionen
aus. Und jedes Jahr kommen 300.000 neu erkrankte Menschen hinzu –
ungefähr so viele, wie in der baden-württembergischen
Universitätsstadt Mannheim leben.
Rund 35 Milliarden Euro, so rechnet die DGG vor, kosten
Behandlung, Pflege, Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentungen, die
durch Diabetes verursacht werden. Nur 20 Prozent dieser Kosten
entstehen durch die Diabetestherapie selbst. 80 Prozent dagegen sind
die direkten Folgen eines schlecht eingestellten Diabetes und der
daraus resultierenden, gehäuft auftretenden Begleiterkrankungen.
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